Selbstverletzung – die Pandemie im Verborgenen

The hidden pandemic of self-harming - CALDA Clinic
Autorin: Claudia M. Elsig, M.D.

Selbstverletzung ist heute eine der erschütterndsten Epidemien der psychischen Gesundheit unserer Zeit. Sie ist weitaus verbreiteter als wir glauben und gerade bei Jugendlichen nehmen Fälle von Selbstverletzung zu.

In Studien wird davon ausgegangen, dass rund ein Viertel der 14-Jährigen sich Selbstverletzungen zugefügt hat.Das Problem ist wahrscheinlich noch wesentlich ernster als diese Zahlen vermuten lassen. Viele statistische Analysen basieren auf Personen, die in Notaufnahmen registriert wurden. Aber viele Menschen, die sich selbst verletzen, nehmen überhaupt keine medizinische Betreuung in Anspruch. Vielmehr ist es ein Verhalten, das im Verborgenen geschieht und nicht in Statistiken auftaucht.

Nichtsuizidale Selbstverletzung (NSSV), so wird dieses Verhalten in wissenschaftlichen Publikationen genannt, ist komplex und vielseitig, wird von unzähligen Auslösern und Treibern verursacht.2 Selbstverletzendes Verhalten muss dringend besser verstanden und offen angesprochen werden.

Dieser Blog erklärt die komplexe Natur von Selbstverletzung, beleuchtet einige der Ursachen und betrachtet Behandlungsmöglichkeiten für eine Verhaltensweise, die häufig missverstanden wird.

Was ist Selbstverletzung?

Selbstverletzung ist das Zufügen von Verletzungen am eigenen Körper mit der klaren Absicht, sich Schaden zuzufügen. Menschen verletzen sich selbst, um mit schwierigen Gefühlen, schmerzhaften Erinnerungen oder sehr bewegenden Situationen und/oder Erfahrungen umgehen zu können. Es kann die Folge einer Reihe von Gedanken sein oder aber auch komplett impulsiv geschehen. In den meisten Fällen handelt es sich um Schneiden, Verbrennen oder nicht tödliche Überdosen, aber es kann auch jede andere Art von selbstzerstörerischem Verhalten sein. Essstörungen beispielsweise sind ernsthafte psychosomatische Erkrankungen, die eine Form der Selbstverletzung darstellen.

Die Arten von Selbstverletzung bei Menschen sind:

  • Kratzen
  • Schneiden
  • Kopfschlagen oder Schlagen
  • Ausreißen von Haaren
  • Überdosierung von Medikamenten
  • Beißen
  • Verbrühungen mit heißem Wasser
  • Verbrennungen
  • Essen oder Trinken von giftigen Substanzen
  • Verweigerung, Wunden zu behandeln
  • Hungern, Essattacken oder Purgingverhalten
  • Beteiligung an gefährlichem Verhalten

Warum verletzen sich Menschen selbst?

Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mit Risiko zu selbstverletzendem Verhalten oft von chronischer Leere, Entfremdung und Isolierung in Kombination mit intensiven, überwältigenden negativen Emotionen berichten.3

Kim L. Gratz, Professorin und Leiterin der Fakultät für Psychologie an der Universität von Toledo (Ohio, USA), hat ausführlich über die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), über nichtsuizidale Selbstverletzung und Emotionsregulierung geschrieben. In ihrer Arbeit über Selbstverletzung erläutert sie: “Theoretische Abhandlungen über die Entwicklung von Selbstverletzung legen nahe, dass eine Kindheitserfahrung im Kreise der Familie am ehesten mit selbstverletzendem Verhalten in Verbindung gebracht werden kann.”3

Die Art der Kindheitserfahrungen, die mit Selbstverletzung in Verbindung stehen können, umfassen laut Gratz dysfunktionale familiäre Hintergründe, Vater-Tochter-Inzest, Missbrauch im Rahmen pathologischer familiärer Beziehungen oder andere Kindheitstrauma, Vernachlässigung oder unsichere Bindungen.

Der Knackpunkt ist folgender: Während Selbstverletzung durch ein gegenwärtiges Ereignis oder aktuelle Umstände ausgelöst werden kann, steckt normalerweise eine komplexere Lebensgeschichte dahinter.

Menschen verletzen sich selbst als Ventil für einen emotionalen Schmerz, mit dem sie nicht umgehen können. Das kann sich über Jahre hinweg aufgestaut haben. Die Verbindung zu früheren Kindheitstraumata erklärt, warum unter den gleichen Belastungen nicht jeder auf dieses Verhalten zurückgreift. Nicht jeder reagiert mit Selbstverletzung.

Wenn eine Person emotional herausgefordert ist und sich nicht in der Lage sieht, Hilfe zu suchen, greifen einige zum Alkohol, andere verlieren sich in Videospielen, essen übermäßig viel (oder reduzieren ihre Nahrungsaufnahme) oder sie nehmen Drogen. Sie können sogar zu einer Mischung aus diesen selbstverletzenden Verhaltensweisen greifen. Wenn Menschen nicht in der Lage sind, ihre Gefühle auszudrücken, ist Selbstverletzung ein Weg, mit Aufregung umzugehen oder sie zu verkraften. Es ist ein Weg, um eine Art von Kontrolle auszuüben.

Ein anderer Beschleuniger ist derzeit die COVID-19-Pandemie, die weltweit einen Anstieg von 25 Prozent bei der Prävalenz von Angstzuständen und Depression ausgelöst hat. Dies geht aus Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Lockdowns haben Situationen von Missbrauch und Gewalt in der Familie verschärft und haben Menschen von ihren vertrauten Unterstützungsnetzwerken getrennt wie etwa Arbeitsplatz, Universität oder Schule.

Die globale Coronavirus-Pandemie hat sich besonders auf die psychische Gesundheit junger Menschen ausgewirkt, die einem unverhältnismäßig hohen Risiko für suizidales oder selbstverletzendes Verhalten ausgesetzt sind. Untersuchungen zeigen, dass sowohl die Häufigkeit als auch die Schwere von Verletzungen durch absichtliche Selbstverletzung, die während dieser Zeit in der Notaufnahme registriert wurden, zugenommen haben.5

Auch die sozialen Netzwerke spielen eine zunehmend relevante Rolle. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Nutzung sozialer Netzwerke von Menschen mit psychischen Problemen und hier speziell von jenen, die zu selbstverletzendem Verhalten neigen, potenzielle Vor- und Nachteile hat. “Unterschiedliche Menschen sind wahrscheinlich auch unterschiedlich von ihren Online-Erfahrungen betroffen, wobei dieselbe Person bei verschiedenen Gelegenheiten unterschiedlich betroffen sein kann.” Das wirft auch das Dilemma auf, wie und in wieweit der Inhalt von Social-Media-Seiten reguliert werden sollte.6

Wer ist gefährdet?

Eine Meta-Analyse von Community-basierten Studien 1990-2015 untersuchte 172 Datensätze von Selbstverletzung bei 597.548 Teilnehmern aus 41 Ländern.Die Ergebnisse lauteten wie folgt:

  • Die allgemeine Lebenszeitprävalenz lag bei 16,9%.
  • Mädchen verletzten sich häufiger selbst.
  • Das Durchschnittsalter für den Beginn von Selbstverletzungen lag bei 13 Jahren.
  • 47% berichteten von nur 1 oder 2 Episoden.
  • Schneiden war die häufigste Art der Selbstverletzung (45%).
  • Suizidgedanken oder Suizidversuche waren deutlich höher bei Jugendlichen, die sich selbst verletzten, und nahmen mit der Häufigkeit der Selbstverletzung zu.

Es gibt eine Reihe verschiedener Ursachen, die die Bereitschaft zur Selbstverletzung erhöhen. Für einige Personen ist die Selbstverletzung ein Weg, um Kontrolle zu verspüren. Für andere ist es eine Bestrafung oder hat mit Gefühlen wie Traurigkeit, Schuld, Selbsthass oder Wut zu tun. Oftmals wird sie genutzt, um sich nicht länger taub oder abgehängt zu fühlen.

Ein genannter Mechanismus für die absichtliche Selbstverletzung bei Heranwachsenden ist Dissoziation.8 Unter Dissoziation versteht man eine natürliche Reaktion auf ein Trauma, die in verschiedenster Weise erfahren werden kann, im Allgemeinen aber mit einem Gefühl von Trennung einhergeht. Bei Dissoziation fühlt sich eine Person von sich und der Umwelt losgelöst, erfährt Erinnerungslücken in ihrem eigenen Leben.

Selbstverletzung und Dissoziation gehen oft Hand in Hand. Studien zeigen, dass Menschen mit einem hohen Maß an Dissoziation gemessen an der Skala Dissoziativen Erlebens (englisch: Adolescent Dissociative Experiences Scale) ein höheres Risiko für Selbstverletzung durch Schneiden oder anderes selbstzerstörerisches Verhalten haben.9

Andere Risikofaktoren sind autistische Tendenzen und/oder Opfer von Bullying (Mobbing) zu sein. Bei Kindern und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nimmt die Wahrscheinlichkeit von selbstverletzendem und suizidalem Verhalten deutlich zu.10 Untersuchungen zeigen weiterhin, dass Opfer von Cyberbullying größeren Risiken ausgesetzt sind als Nicht-Opfer von sowohl selbstverletzendem und als auch suizidalem Verhalten.11

Woran erkennen Sie, dass sich jemand selbst verletzt?

Wie man sieht – und dieser Blog rührt nur an der Spitze des Eisbergs – sind die Ursachen für Selbstverletzung sehr komplex. Die meisten Menschen, die sich selbst verletzen, halten dies verborgen. Daher kann es nur schwer erkannt werden.

Doch es gibt ein paar Warnhinweise, auf die Sie achten sollten. Depression oder Angstzustände können ein Vorläufer von Selbstverletzung sein. Sie sollten also auf Stimmungsschwankungen und Veränderungen im Verhalten achten. Ausdrücken kann sich dies in Motivationsmangel oder genereller Interessenlosigkeit sowie Verschlossenheit oder Zurückgezogenheit. Menschen, die zu Perfektionismus neigen, oder Menschen, die sich selbst nur schwer Grenzen setzen, können sich ebenfalls durch Selbstverletzung angezogen fühlen.

Weitere Hinweise, auf die Sie achten sollten:

  • Nicht erklärbare Schnitte, Verbrennungen oder Prellungen
  • Bedeckung des Körpers auch bei warmem Wetter, etwa das Tragen von langen Ärmeln und Hosen oder dicken Strumpfhosen
  • Veränderungen der Essgewohnheiten (übermäßiges oder reduziertes Essen)
  • Exzessives Training

Wie ist es zu ertragen, wenn ein geliebter Mensch sich selbst verletzt?

Es gibt nichts Schockierendes als herauszufinden, dass jemand, den Sie lieben, sich selbst verletzt. Es kann schwierig sein zu wissen, was zu tun ist, besonders dann, wenn Sie nicht verstehen, warum die Selbstverletzung geschieht. In diesem Moment sind Geduld und Verständnis gefragt.

Sie müssen die betroffene Person, die Sie unterstützen möchten, nun wissen lassen, dass sie einem nicht alles sofort erzählen müssen. Es kann zuviel für eine Person sein, die richtigen Worte zu finden, besonders weil die Ursachen komplex sein können. Die betroffenen Menschen verstehen es unter Umständen selbst nicht, warum sie sich selbst verletzen.

Sie müssen versuchen, nicht zu (ver)urteilen. Sie sollten sich auf den Menschen als Ganzes beziehen und nicht das selbstverletzende Verhalten in den Fokus rücken. Versuchen Sie, Empathie zu zeigen. Sie sollten keine Entscheidungen für die Betroffenen treffen, vielmehr müssen sie ihnen die Kontrolle über ihre eigenen Entscheidungen lassen. Sie können Hilfe dabei anbieten, die richtige Unterstützung für den Betroffenen zu finden. Das könnte ein Hilfetelefon sein, eine Selbsthilfegruppe oder ein auf das Thema spezialisierter Therapeut.

Wie finden Sie Hilfe, wenn Sie sich selbst verletzen?

Es ist extrem schwierig für Menschen, die sich selbst verletzen, Hilfe zu suchen, da sie sich oftmals schämen. Wenn das Ihr Fall ist, ist der erste Schritt zu erkennen, dass es ein Problem gibt und dass es Hilfe gibt. Es gibt viele Hilfetelefone, Selbsthilfegruppen, Berater, Psychiater und Therapeuten, die Ihnen helfen können. Ein guter Anfang ist ein Gespäch mit einem Menschen, dem Sie vertrauen.

Behandlung in CALDA

Eine professionelle Behandlung durch Spezialisten für Selbstverletzung ist entscheidend, denn diese Art des selbstzerstörerischen Verhaltens geht nicht von allein wieder weg. Absichtliche Selbstverletzung ist ein bedeutender Risikofaktor für einen nachfolgenden Suizid. Daher ist es enorm wichtig, sich so schnell wie möglich behandeln zu lassen.

Die meisten der gängigen Therapien für Menschen mit Selbstverletzung verwenden Psychotherapie und Psychopharmaka. Bei CALDA aber verfolgen wir einen sehr viel ganzheitlicheren Ansatz. Als Kunde der CALDA Clinic erhalten Sie eine 1:1 Therapie, zugeschnitten auf Ihre Bedürfnisse und basierend auf dem CALDA Concept.

Das CALDA Concept ist eine maßgefertigte und hocheffiziente Präzisionstherapie, bei der wissenschaftliche Methoden der klassischen Medizin mit eigens erprobten Behandlungsmethoden aus Komplementärmedizin, traditioneller chinesischer Medizin (TCM) und orthomolekularer Medizin miteinander kombiniert werden.

Um dauerhafte Ergebnisse zu erzielen, behandeln wir die Ursachen, nicht die Symptome. Unsere Behandlungen sollen Sie von Ihrem selbstzerstörerischen Verhalten befreien und Ihnen Ihr Leben zurückgeben. Wenn Sie mehr wissen möchten, setzen Sie sich bitte mit uns in Verbindung.

Quellenangaben

  1. Webseite: BeHeadStrong.co.uk. Christian Youth Charity in the UK. Self-harm Statistics.
  2. Borschmann R. und Kinner S A. 1. Jul. 2019. Responding to the rising prevalence of self-harm. The Lancet. Band: 6. Ausgabe: 7, Seite(n): 548-549
  3. Gratz K. Jun. 2003. Risk Factors for and Functions of Deliberate Self-Harm: An Empirical and Conceptual Review.Clin Psychol Sci Prac 10: 192–205, 2003.
  4. World Health Organisation. Pressemitteilung. 2. Mar. 2022. COVID-19 pandemic triggers 25% increase in prevalence of anxiety and depression worldwide.
  5. Henry, N. et al. 15. Dez. 2020. The effect of COVID-19 lockdown on the incidence of deliberate self-harm injuries presenting to the emergency room. The International Journal of Psychiatry in Medicine. Band: 56 Ausgabe: 4, Seite(n): 266-277.
  6. House A. Aug. 2020. Social media, self-harm and suicide. BJPsych Bull. 2020 Aug.; 44(4): 131–133.
  7. Gillies D. et al. 21. Aug. 2018. Prevalence and Characteristics of Self-Harm in Adolescents: Meta-Analyses of Community-Based Studies 1990-2015. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry;57(10):733-741.
  8. Černis E. et al. Mai 2019. What is the relationship between dissociation and self-harming behaviour in adolescents?Clin Psychol Psychother 26(3):328-338.
  9. Tolmunen T. et al. Okt. 2008. Dissociation, Self-Cutting, and Other Self-Harm Behavior in a General Population of Finnish Adolescents. The Journal of Nervous and Mental Disease: Band 196 – Ausgabe 10 – Seite(n) 768-771
  10. Blanchard A. et al. 1. Okt. 2021. Risk of Self-harm in Children and Adults With Autism Spectrum Disorder: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Netw Open; 4(10):e2130272
  11. John A. et al. 19. Apr. 2018. Self-Harm, Suicidal Behaviours, and Cyberbullying in Children and Young People: Systematic Review. J Med Internet Res;20(4):e129.